V. Speth: Das rheinische Wallfahrtswesen

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Titel
Katholische Aufklärung und Ultramontanismus, Religionspolizey und Kultfreiheit, Volkseigensinn und Volksfrömmigkeitsformierung. Das rheinische Wallfahrtswesen von 1826 bis 1870. Teil 2: Die staatliche Wallfahrtspolizey im nördlichen Rheinland


Autor(en)
Speth, Volker
Reihe
Europäische Wallfahrtsstudien 8
Erschienen
Frankfurt am Main 2011: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Joachim Schmiedl, Theologische Fakultät, Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar

Wallfahren war im 19. Jahrhundert nicht nur ein Akt persönlicher oder gemeinschaftlicher Frömmigkeit, sondern auch ein Politikum. Die reformatorische Kritik am katholischen Wallfahrtswesen aufgreifend, hatte sich der aufgeklärte Staat des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts die Unterbindung organisierter Prozessionen auf die Fahne geschrieben. In der Tendenz unterschieden sich
dabei die staatskirchlichen Regierungen der vorrevolutionären Zeit wenig von der Regulierungsfreude der preußischen Zeit. Und sie fanden für ihre Politik der «Religionspolizey» die Unterstützung der aufgeklärten Bischöfe und ihrer Behörden.

Dieser Befund wird von Volker Speth seit seiner Bonner Dissertation von 2008 (Vgl. Volker Speth, Katholische Aufklärung, Volksfrömmigkeit und Religionspolicey. Das rheinische Wallfahrtswesen von 1816 bis 1826 und die Entstehungsgeschichte des Wallfahrtsverbots von 1826 [Europäische Wallfahrtsstudien 5], Frankfurt 2008.) in Quelleneditionen und -studien für das preußische Rheinland bestätigt. Ausgangspunkt ist für ihn das Wallfahrtsverbot, das der Kölner Erzbischof Spiegel in einem Hirtenbrief vom 12. Mai 1826 für seine Erzdiözese erliess und das vom Oberpräsidenten der Rheinprovinz in einer Verordnung vom 5. Juni 1826 für den staatlichen Bereich übernommen wurde. In einer ersten Studie hatte Speth die Auswirkungen dieser kirchlich-staatlichen Regelung für das Erzbistum Köln in den Blick genommen. (Vgl. Volker Speth, Katholische Aufklärung und Ultramontanismus, Religionspolizey und Kultfreiheit, Volkseigensinn und Volksfrömmigkeitsformierung. Das rheinische Wallfahrtswesen von 1826 bis 1870. Teil 1: Die kirchliche Wallfahrtspolitik im Erzbistum Köln [Europäische Wallfahrtsstudien 7], Frankfurt 2010). Das zu besprechende Buch setzt diese Untersuchung für den Bereich der nördlichen Rheinlande fort.

Speth verwendet den Begriff «Polizey» in der Bedeutung von «staatlicher Obsorge über die innere Ordnung» (3). Dazu gehörte auch die beanspruchte Zuständigkeit für die öffentliche Ausübung von Religion. Der Spiegel’sche Hirtenbrief untersagte mehrtägige und die Grenzen der Diözese überschreitende Wallfahrtszüge, was der Münsteraner Bischof Caspar Max Droste zu Vischering durch das Verbot von Tageswallfahrten ohne Begleitung eines bischöflich autorisierten Geistlichen noch verschärfte. Die staatliche Seite hatte mit der gewährten oder verweigerten Ausstellung von Reisepässen oder Legitimationskarten ein zusätzliches Druckmittel in der Hand.

In mehreren zeitlichen Durchgängen stellt Speth die Entwicklung der Wallfahrten vor allem nach Kevelaer zwischen 1826 und 1870 dar, wobei das Schwergewicht auf dem ersten Jahrzehnt des Untersuchungszeitraums liegt. Dabei zitiert er in den Fussnoten ausführlich aus den staatlichen und – in geringerem Mass – kirchlichen Akten, so dass ein anschauliches Bild der Ereignisse und Reaktionen darauf entsteht. Diese Anmerkungen machen das Buch zu einer wertvollen Quellensammlung.

Während der Regierungszeit Erzbischof Spiegels führte das enge Zusammenwirken kirchlicher und staatlicher Behörden zu einem deutlichen Rückgang der Wallfahrten. Speth kann feststellen, dass «die Repressionskooperation von Kirche und modernem Anstaltsstaat» die feierlichen Wallfahrtszüge um 1830 «weitgehend zum Erliegen gebracht» habe (22). Umso häufiger finden sich in den Akten Hinweise auf private Initiativen von Wallfahrten ohne Begleitung von Priestern, die vor allem ab 1834 wieder einsetzten. Die lokalen Polizeibehörden standen oft machtlos vor den Pilgern, weil sie mit den wenigen Polizisten gegen eine Überzahl von Gläubigen keine Gewaltmassnahmen erfolgversprechend anwenden konnten. So blieb es meistens bei der Vernehmung der Brudermeister und Ermahnungen, die sich in den Protokollen und der Korrespondenz mit den Landräten aber ausführlich niederschlugen.

Spiegels Nachfolger, Clemens August Droste-Vischering, verfocht eine andere Linie. Er genehmigte Anträge zu mehrtägigen Wallfahrten, sofern sich ein Geistlicher daran beteiligte. Ab 1837 nahmen die Wallfahrten nun wieder zu, was besonders die Behörden in Stadt und Landkreis Neuss kritisch beobachteten. Die Kooperation zwischen Kirche und Staat wurde durch Droste-Vischering aufgekündigt. Für die Wallfahrtssaison 1838 war allerdings wieder die alte Situation hergestellt, weil der nach der Verhaftung Droste-Vischerings amtierende Generalvikar Hüsgen die Einhaltung des Wallfahrtshirtenbriefs von 1826 einforderte. Doch das Kultusministerium bemühte sich sukzessive um eine Entspannung der Situation und wies die untergeordneten Behörden zu einem behutsamen Vorgehen an. Das allerdings implizierte eine Aufforderung «zur stillschweigenden Duldung des Normverstosses ungeachtet der theoretischen Aufrechterhaltung der Norm» (193). Diese veränderte Verwaltungspraxis diente der Deeskalierung im Zusammenhang der Beilegung des Kölner Kirchenstreits. Sie wurde von den lokalen Behörden nur zögernd umgesetzt. Dennoch wurden ab 1840 zunehmende Wallfahrerzahlen registriert.

Das zweihundertjährige Jubiläum der Kevelaer-Wallfahrt im Jahr 1842 brachte dann das endgültige Ende der Kooperation von Staat und Kirche zur Verhinderung von Pilgerzügen. Der zuständige Bischof von Münster zeigte die geplanten Jubiläumsfeierlichkeiten der Regierung in Düsseldorf lediglich an, ohne um Erlaubnis zu bitten. Die Düsseldorfer Regierung ihrerseits wies die lokalen Behörden an, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Die zwei Jahre später stattfindende Wallfahrt zum Heiligen Rock nach Trier war die Nagelprobe, ob die neue staatliche Wallfahrtspolitik funktionierte.

Der Schilderung der Entwicklung staatlicher Wallfahrtspolitik folgt bei Speth ein zweiter Teil, in dem einzelne Aspekte von Wallfahrten und die staatliche Reaktion darauf für den Untersuchungszeitraum analysiert werden, wie ausländische Wallfahrten, Störungen des evangelischen Gottesdienstes durch vorbeiziehende Pilger, das Prozessionswesen, die Begleitung durch Militär und Bürgergarden sowie das Verhalten bei Sakramentsprozessionen.

Volker Speth hat eine für weitere Untersuchungen der Frömmigkeitsgeschichte und des Staat-Kirche-Verhältnisses im 19. Jahrhundert wichtige Studie mit einem wertvollen Quellenbestand vorgelegt. Störend wirken bisweilen der geschraubte Sprachstil und die Vorliebe des Autors für «Wortungetüme », wie sie bereits im Buchtitel aufscheinen. Der Zusammenhang mit der katholischen Aufklärung wird nachvollziehbar herausgestellt. Hingegen wird dem Ultramontanismus-Konzept kaum Raum gewidmet. Dazu hätte Speth die weitere Entwicklung über die 1848er-Revolution bis zum Ersten Vatikanum verfolgen müssen. Es bleibt zu hoffen, dass er diesen Zeitraum in weiteren Teilbänden seines Projekts zum rheinischen Wallfahrtswesen behandeln wird.

Zitierweise:
Joachim Schmiedl: Rezension zu: Volker Speth, Katholische Aufklärung und Ultramontanismus, Religionspolizey und Kultfreiheit, Volkseigensinn und Volksfrömmigkeitsformierung. Das rheinische Wallfahrtswesen von 1826 bis 1870. Teil 2: Die staatliche Wallfahrtspolizey im nördlichen Rheinland, Frankfurt a.M., Peter Lang, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 712-713.

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